JUGENDBEWEGUNG
WERTHEIMER
Aktion Jugendhaus: Dokumentation. Die Geschichte der Aktion Jugendhaus ist eine Geschichte von Hausbesetzungen. Wertheim 1976. Ein inzwischen auch in die Jahre gekommenes Dokument der rebellischen Jugend einer Kleinstadt, der so lieblich scheinenden Kleinstadt Wertheim am Zusammenfluß von Main und Tauber. Die Geschichte der Aktion Jugendhaus Wertheim ist allerdings mehr als eine Geschichte der drei Hausbesetzungen von 1971, 1973 und 1975, das zeigt auch das Herumblättern in der im Frühjahr 1976 veröffentlichten Dokumentation. Auf den ersten 20 Seiten finden sich umfangreiche Analysen der kleinstädtischen Situation in den frühen siebziger Jahren, vor allem der als defizitär empfundenen Freizeitsituation, der unbefriedigenden Lebenssituation von Jugendlichen in einer Kleinstadt. Die äußerte sich im unvermittelten Aufprall unterschiedlicher Lebenswelten von Jugendlichen und Erwachsenen, hier vertreten vor allem durch Bürgermeister, Stadtrat, Stadtverwaltung, Honoratiorenschaft usw. Von den Jugendlichen wurde die Erwachsenenwelt als eine wenig weiter entwickelte, wenig liberal eingestellte empfunden. Für neue gesellschaftliche Impulse schien die erstarrte Kleinstadtwelt keinen Raum zu bieten, insofern mußten Aktionen der Jugendlichen organisiert werden, um eigene Räume zur Entfaltung und Freizeitgestaltung in der Kleinstadt schaffen zu können. Ungleichzeitigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung verhinderten bzw. behinderten die Möglichkeiten einer kleinstädtischen Übereinkunft von Jugendlichen und Erwachsenen. Die Modernisierung von Kleinstädten schien in den siebziger Jahren nur eine rein bauliche, städtebauliche zu sein, die kulturelle, die soziokulturelle lief noch unbemerkt an, durchaus forciert durch die Aktionen von Jugendlichen, die Räume zur eigenen Gestaltung einforderten. Stadtverwaltungen waren in den siebziger Jahren kaum befähigt, auf das enorme bürgerschaftliche Engagement in der eigenen Kleinstadt gezielt zu antworten, hielten es für fremdgesteuert und setzten vielmehr auf die Trägheit der Kleinstadtzeit, wohl wissend, dass engagierte Jugendliche einer Kleinstadt durch Abwanderungswilligkeit (Studium, Arbeit, Unzufriedenheit mit dem kleinstädtischen Leben) das Leben in einer Kleinstadt gegen das Versprechen eines pulsierenden in einer Großstadt tauschen und damit aus der Kleinstadtöffentlichkeit verschwinden würden. Ein Bewußtsein, welchen Schaden eine Kleinstadt durch den Verlust dieses oft innovativen Potentials erlitt, war in den Köpfen der Stadtbürokratie und des Stadtrates nicht bzw. lange nicht vorhanden. Die Dokumentation ist insofern ein einzigartiges Dokument, wie Jugendliche in den frühen siebziger Jahre ihre Kleinstadt erlebt haben bzw. nicht erleben konnten, aber anders erleben wollten.
Autorenkollektiv der Aktion Jugendhaus (Albert Herrenknecht, Stefan Koospal, Jürgen Wohlfarth): Jugendhauskampf in der Provinz und darüber hinaus. Manuskript 1976. Wiederveröffentlicht in: Albert Herrenknecht: Provinzleben. Aufsätze über ein politisches Neuland. Frankfurt 1977. (Hinweis: gekürzte Version) Vorgeschichte des Projektes Die Aktion Jugendhaus ist eine Jugendzentrumsinitiative in Wertheim am Main, die seit über sieben Jahren versucht, ein Jugendhaus zu bekommen. Trotz dreier Hausbesetzungen 1971, 1973 und 1975 besitzt die Aktion Jugendhaus auch heute noch kein Jugendhaus, da sich die Stadtverwaltung nach wie vor gegen ein Jugendhaus in Selbstverwaltung sträubt. Während dieser Geschichte wurde nicht nur eine offene Repression in Form des Verhaltens der Stadtverwaltung, die durch ihr Verhalten die Hausbesetzungen erzwang und 1973 das Haus räumen ließ, sondern auch eine schleichende Repression, die als eine Art „strukturelle Gewalt“ der Provinzverhältnisse wirkt, bewusst. Wertheim ist eine Kleinstadt mit 20 000 Einwohnern mit den charakteristischen Widerständen der Provinzlage: Dominanz der Vereine mit ihrem Monopol an Öffentlichkeit, Defizit an Konsumangeboten für Jugendliche und öffentlichen Treffs, Mangel an Anonymität etc. …
Die Situation der Jugendlichen in der Provinz Die Belastungen, denen Jugendliche auf dem Lande unterworfen sind, sind stärker als in der Großstadt: Die schlechten Verkehrsbedingungen bewirken, dass die Jugendlichen kaum aus ihrem „Kaff“ herauskommen und dadurch ein größerer Anpassungsdruck erzeugt wird. Einerseits unterwerfen sie sich den bestehenden Strukturen (das Wirtshaus wird zum Treffpunkt), andererseits wird im Berufsleben mehr „eingesteckt“, um sich möglichst bald einen fahrbaren Untersatz leisten zu können, der den Aktionsradius erweitert. Das mangelnde Freizeitangebot in Kleinstädten, vor allem das Defizit von Freizeitmöglichkeiten, die Jugendliche interessieren, treibt die Jugendlichen entweder in die Kneipen oder in teuere kommerzielle Discos. Die Einseitigkeit der Verein lässt zwar viele Jugendliche unbefriedigt; trotzdem unterwerfen sie sich den Vereinsstrukturen, weil es keine konkrete Alternative dazu gibt. Über die vorgezeichneten Bahnen des „Vereinslebens“ wird das Verhalten der Erwachsenen reproduziert. Für die Kleinstadtsituation sehr charakteristisch ist die Aufspaltung von Jugendlichen in viele Cliquen, die sich nach außen hin stark abkapseln und dadurch keine Veränderung der Lage der Jugendlichen bringen können. Die Cliquen haben sich in den Nischen des Kleinstadtlebens eingenistet und reproduzieren durch ihren „Cliquenprivatismus“ die vorhandene Verschlossenheit. Die auf dem Lande sehr ausgeprägte „Privatisierungstendenz“ führt dazu, dass die Jugendlichen sehr bald in das Erwachsenenleben integriert werden. Die Ehe-Flucht, die Tradierung von Kleinfamilien-Lebensformen, die Vereinsmeierei sind Fixpunkte dafür. Die Abhängigkeit der Jugendlichen vom Elternhaus und den Erziehungsinstanzen ist größer als in der Großstadt. Die Jugendlichen leben nicht nur länger bei ihren Eltern, sondern die Repression über die Sozialisationsinstanzen funktioniert auch stärker. Der Meister, der Lehrer, der Pfarrer, der Nachbar haben noch starken Einfluß auf die Erziehungsentscheidungen der Eltern. Widerstand gegen die bestehende Ordnung wird in multiplizierter Form beantwortet. Eines der bestfunktionierendsten Repressionsmittel ist nach wie vor das Gerede (Gerücht).
Strukturmerkmale der Kleinstadtsituation Gesellschaftliche Widersprüche sind in einer Kleinstadt viel verschleierter als in den Metropolen. Dies liegt daran, dass sich die gesellschaftlichen Prozesse in der Großstadt viel schneller vollziehen und die Klassenwidersprüche offener liegen als in der Kleinstadt. Unter Politik wird das, was die Großen machen, verstanden, nicht aber was sich alltäglich im Leben abspielt. Vieles, was in der Provinz politisch passiert, wird nicht als solches erfahren und begriffen. Die privaten Alltagsinteressen stehen eindeutig im Vordergrund, zumal gerade die Provinzsituation noch so etwas wie eine individuelle Perspektive (Eigenheim etc.) erscheinen lässt. Die gesellschaftlichen Widersprüche werden durch die personalisierte Form der Beziehungen überdeckt: die allgemeine Bekanntheit und die daraus folgende Rücksichtnahme (bzw. Vorsichtnahme), das Aushandeln der Entscheidungen im Gemeinderat durch die Honoratioren untereinander, die oft nicht unterscheidbare Politik der Parteien, die Scheinkonflikte in der Kleinstadtpolitik und die noch vorherrschende Ideologie des „Generationenkonfliktes“ bei Fragen, die von Jugendlichen gestellt werden, verschleiern die wirklichen gesellschaftlichen Interessengegensätze. … Durch diesen Kleinstadtwald der Interessensverflechtungen und Personalunion durchzublicken, herauszufinden, wer Gegner, wer Verbündeter ist, eine Einschätzung anhand der Kriterien einer objektiven Analyse zu entwickeln, scheitert an den scheinbar irrationalen Interessenskonstellationen. Die Verfilzung der Interessen, die klassenunspezifischen Bündnisformen und Interessensüberlappungen lassen keine eindeutige Klassenanalyse zu. Was übrig bleibt, ist, dass der, der trotz dieser negativen Bestimmung politisch handelt, zum Außenseiter wird. Das Kleinstadtmilieu entwickelt aus sich heraus eine Ideologie des Ausgleiches, einen ganz spezifischen Konservatismus, der nicht auf den Begriff einer gewissen Partei zu bringen ist. Alles, was über den Rahmen dieses Vorstellungsgebäudes, das auf der Ideologie einer gegenseitigen Toleranz um jeden Preis, auf Stammtischphilosophien des Menschlichen-an-sich und moral-ökonomischen Beziehungen (Geschäfts- und Verwandtschaftsbeziehungen) basiert, lebt von der Ablehnung aller extremen Positionen, aller derjenigen, die nicht „dazu“ gehören. Die Kleinstadtsituation ist gekennzeichnet durch eine verallgemeinerte Vetternwirtschaft, die in dem Chaos ihrer Beziehungen untereinander das Privatinteresse favorisiert und fortschrittlichen Bewegungen keinen Platz zum Existieren lässt. Alles muß nivelliert, angepasst werden auf das Kleinstadtlevel, das durch die Stammtischdiktatur verkündet wird.
Schwierigkeiten des Jugendhauskampfes in der Provinz Die Kampfformen, die eine Initiative zur Erreichung ihres Zieles, ein Jugendhaus zu bekommen, anwendet, hängen eng mit der besonderen Situation in der Provinz zusammen. Militante und spektakuläre Aktion wie zum Beispiel Hausbesetzungen und Rathaus-Go-ins, werden in der Regel aufgrund der stärkeren sozialen Kontrolle, die sich über die allgemeine Bekanntheit herstellt, nicht durchgeführt. Die Ausnahme besteht darin, dass es bereits eine größere Zahl von politisierten Jugendlichen gibt, die in der Lage ist, solche Aktionen zu tragen, die auf eine breite Basis bei den Jugendlichen und auf Sympathie bei der Bevölkerung zurückgreifen kann (In Wertheim war dies durch das sture Verhalten der Stadtverwaltung gegeben. Selbst eine Hausbesetzung war vermittelbar). Das Freizeitangebot-Defizit, das durch die Provinzlage bedingt ist, schlägt sich im Bedürfnis der Jugendlichen nach mehr Freizeitmöglichkeiten nieder. Dieses Bedürfnis ist die Ursache dafür, weshalb so viele Jugendliche Interesse an einem Jugendhaus haben – kann also die Grundlage für die Erkämpfung eines Hauses sein. Andererseits kann sich dieses Bedürfnis als Sackgasse erweisen, wenn es das einzige Interesse an einem Jugendhaus darstellt. Gerade in Kleinstadt-Initiativen fällt auf, dass das Freizeitinteresse klar im Mittelpunkt steht, weil ein Nachholbedarf an Freizeitmöglichkeiten besteht. Eine Initiative, die diese besondere Situation nicht (an)erkennt und in ihren Kampf miteinbaut, wird an den Alltagsbedürfnissen der Jugendlichen scheitern. Eine Politisierung kann sich nur mit und über die Bewältigung dieser Alltagsbedürfnisse vollziehen. Das wichtigste Mittel zur Veränderung der Lage der Jugendlichen ist die Bewegung, die sich zur Erreichung eines Jugendhauses bildet. Sie ist in der Lage, als Gegenbewegung die Privatisierungstendenz aufzuheben und durch die Aufweichung der Cliquenaufspaltung über die Schaffung von Öffentlichkeit erst einmal die Jugendlichen zusammenzubringen, damit sie sich für ihr Ziel organisieren können. Der Grad der Bewegung hängt ab von der Politisierung der Aktiven, dem Bedürfnis der Betroffenen und den Formen, mit dem das Ziel erreicht werden soll. Aktionen sind dabei das beste Mittel, eine Bewegung überhaupt in Bewegung zu bekommen. Jugendhausbewegungen sind als Gegenbewegungen Organisationsformen, die sich vom Bestehenden absetzen. In ihnen ist eine Tendenz der Isolierung nach außen (zur Bevölkerung und zu den anderen Jugendlichen, die nicht daran teilhaben) angelegt, die durch einen Gewinn an innerer Stärke aufgehoben werden muß. Da sich eine Jugendhausbewegung in der Provinz nur selbst tragen und stabilisieren kann, sind hier die Bedingungen viel schwieriger als in der Stadt. … In der Provinz gibt es keine linke Szene, die der Initiative praktisch helfen kann, bei stärkerem Druck endet sie meist in Resignation statt im organisierten Widerstand, in der Provinz gibt es – aufgrund der bereits erwähnten sozialen Kontrolle – kaum Bürger, die sich öffentlich mit den Zielen der Initiative solidarisieren, weil sie es sich wegen der sozialen Stigmatisierung nicht leisten können. Eine Radikalisierung der Initiative wird durch den moralischen Druck, der auf die Mitglieder ausgeübt wird, unterdrückt.
Albert Herrenknecht: Provinzleben. Aufsätze über ein politisches Neuland. Frankfurt 1977 Provinzleben ist das Dokument der erwachenden kleinstädtischen Jugend der 70’er Jahre und weist mit seinen Perspektiven in die 80’er hinein mit der Entdeckung von Provinz, Heimat, Gegengeschichte, Alltagsgeschichte, regionaler Kultur. Es ist das Buch einer wacheren Provinz, des beginnenden Widerstandes des Landes gegen die zugewiesenen Funktionalisierungen von außen (Atomkraftwerke, Sonderdeponien, Teststrecken usw.). Es ist auch die sprachbilderreiche Nachzeichnung einer der größten politischen und gesellschaftlichen Jugendbewegungen, der kleinstädtischen Jugendzentrumsbewegung, die zum einen die beginnende gesellschaftliche soziokulturelle Ausdifferenzierung der kleinstädtischen Lebenswelt kennzeichnet, die zum weiteren weit über ihre Forderungen nach besseren Freizeitbedingungen für Jugendliche hinaus eine aktive kleinstädtische Be-Heimatungsbewegung war. Jugendliche wollen ihren Platz selbstbewusst im Kleinstadtleben einnehmen, fern von der altvorderen, altväterlichen Vereinskultur und Stammtischdenkerei der Vatergeneration. Provinzleben ist quasi mehrschichtig und doppeldialektisch angelegt: Der Alltag der Jugendlichen, die alltägliche Kleinstadt, die Alltagsprovinz werden in ihrer Widersprüchlichkeit beschrieben und dabei immer auch – selten einfache – Perspektiven entwickelt, die über die reine Alltagsbewältigung hinausgehen. Der Stil von Provinzleben ist deshalb gleichzeitig literarisch und analytisch angelegt, teilweise sogar radikal öffentlich, indem auch das widersprüchliche, teilweise auch chaotische Innenleben der Jugendhausbewegungen zur Sprache gebracht wird. Etwas was ansonsten in der üblichen traditionellen Kleinstadt- und Landkultur auf keinen Fall nach außen dringen durfte, um sich nicht selbst an die kleinstädtischen Schandmäuler auszuliefern. Provinzleben zeigt die entstehende kleinstädtische und ländliche Jugendkultur von der Schülerbewegung 1969 bis in die End 70er Jahre. Provinzleben dokumentiert aber auch die Öffnung der Jugendlichen in die Region, in die regionale Zusammenarbeit von Initiativen hinein: die Region wird zur Lebens- und Aktionswelt von Jugendlichen, das lokale Denken und Gebundensein verblasst immer mehr gegenüber einer regionalen Neuorientierung. Auch wenn die analytisch-strategisch politische Perspektivarbeit an der Provinz, die Provinzleben utopie-realisierend einfordert und enorm gefördert hat, heute eher homoöpatischen Streicheleinheiten gewichen ist, hat die Jugendhaus- und regionale Jugendbewegung in der Provinz langfristig den Stellenwert soziokultureller Gruppen im Kleinstadt- und Landleben eingeführt und bestätigt: Eine Kleinstadt ist längst kein übersichtlicher Einheitsverbund mehr, der von einem altväterlichen Tabakskollegium unter dem führenden Gängelband des Bürgermeisters im permanenten Einklang mit den gewerbetreibenden Patronen gesteuert wird. Die Entwicklung des Provinzlebens hat die Kleinstadt kulturell ausdifferenziert und über die Stadtgrenzen hinaus in die Region geöffnet, quasi regionalisiert.
In der Zeitschrift PRO-REGIO-ONLINE Nr. 5 - 2008 wird zum 40jährigen Jubiläum der 1968er Ereignisse besonders auf die Situation der Kleinstadt 1968 eingegangen, mit der Schülerbewegung in den Kleinstädten, der Jugendhausbewegung, den politisierten Jugendbewegungen von 1967-1977, die besonders auch auf den tauber-fränkischen Bewegungen basierten:
Albert Herrenknecht: Strukturanalyse der Kleinstadt - Das Kleinstadtbild der politischen Jugendbewegungen der 1960er und 1970er Jahre am Beispiel Wertheim
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